Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt (1767–1835)
Heutigen Zeitgenossen ist Wilhelm von Humboldt vor allem als Begründer des deutschen Universitätsmodells ein Begriff, ein Modell, das auf den Imperativ der Forschung setzt: Die “Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten” liegt darin, “dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben”.
In diesem Sinne hatte Humboldt bereits 1795 postuliert, dass “die physische Natur nur Ein großes Ganze[s] mit der moralischen ausmacht und die Erscheinungen der beiden nur einerlei Gesetzen gehorchen”. Geistige Produktivität und moralisches Handeln lassen sich nicht von der “sinnlichen Natur” und der Geschlechtlichkeit des Menschen trennen. Dieser Denkweise, nach der auch “der Gedanke, dieser feinste und letzte Sprössling der Sinnlichkeit”, seinen “Ursprung” in der Geschlechtlichkeit hat, folgen dann auch Humboldts spätere Überlegungen zum “Sprachsinn”.
Im Kontext der Entstehung der Sexualwissenschaft wurde Humboldts Ansatz, geistige Tätigkeit des Menschen und sein Handeln nicht von seiner “sinnlichen Natur” abzutrennen, zunächst von Havelock Ellis in seinen “Studies in the Psychology of Sex” aufgegriffen, später von Sigmund Freud in seinen “Abhandlungen zur Sexualtheorie” fortgeschrieben. Iwan Bloch, der programmatische Begründer und Namensgeber der Sexualwissenschaft bezog sich dann unmittelbar auf Humboldt.
In der gegenwärtigen Sexualmedizin – dem klinischen Anwendungsfach der Sexualwissenschaft – lässt sich Humboldts Ansatz eine zentrale Rolle zuweisen: Einmal basiert die sexualmedizinische Diagnostik und Behandlung auf einem bio-psycho-sozialen Zugang zu sexuellen Störungen und zum anderen auf einem “Modell der Dialogik” wie es Humboldt in seiner Sprachforschung vorgedacht hatte. Dieses Modell lässt sich auch auf die sexuelle Kommunikation übertragen und kennzeichnet den Fokus sexualtherapeutischer Interventionen, die an der komplementären Verbundenheit der Partner ansetzten, um die sexuelle und partnerschaftliche Beziehungszufriedenheit zu verbessern.
Sich als Stiftung einem wissenschaftlichen Vermächtnis auszusetzen, wie es Humboldt mit seinem Zugang zur Natur des Menschen über die Geschlechtlichkeit paradigmatisch eröffnet hat, verpflichtet somit zur uneingeschränkten Offenheit gegenüber all jenen seelischen, körperlichen und gesellschaftlichen Vorgängen, die damit im Zusammenhang stehen.